Architektin Isabel Strehle, seit zwei Jahren Leiterin des Fachbereichs Stadtentwicklung, -planung und Mobilitätsinfrastruktur in Aachen, über den Umbau der Stadt zu einem Raum für alle.
Fließender Verkehr galt lange als oberste Maxime für Städteplaner*innen – und auch für die Gesetzgebung. Ist das immer noch so?
Die Straßenverkehrsordnung atmet genau diesen Geist. Wir Stadtentwickler*innen sind sehr glücklich darüber, dass der Bundesgesetzgeber beginnt, über neue Prioritäten nachzudenken. Dass der Verkehr fließt, wird auch künftig wichtig sein. Im Fokus steht dabei aber der Umweltverbund – also ÖPNV, Fuß- und Radverkehr. Für das Bild einer lebenswerten Stadt wird künftig die Aufenthaltsqualität eines Stadtraums immer wichtiger und damit auch der Straße als geteilter Ort, der offen ist und allen zur Verfügung steht.
Wo steht Aachen in der Entwicklung hin zum geteilten Raum?
Aachen ist eine Stadt der Fußgänger*innen. Bereits vor fünf Jahren haben die Aachner*innen fast jeden dritten Weg im Stadtgebiet zu Fuß zurückgelegt, das lag deutlich über dem bundesdeutschen Durchschnitt, wie die Studie MiD – Mobilität in Deutschland von 2017 gezeigt hat. Diese Stärken wollen wir ausbauen. Dazu gehören so genannte Langsamverkehre wie Fuß- und Radverkehr und natürlich auch der öffentliche Nahverkehr. Bei den Stärken anzusetzen, ist oft deutlich einfacher und produktiver, als immer nur Schwachstellen zu analysieren und Defizite auszugleichen.
Dass der öffentliche Raum für alle da ist, ist ein grundlegender Wandel. Wie gelangt er in die Köpfe?
Dafür haben wir in Aachen hervorragende Voraussetzungen. Die Aachener Politik hat in den vergangenen Jahren tatkräftige Beschlüsse gefasst und damit der Verwaltung einen klaren Auftrag gegeben. Mit der Mobilitätsvision 2050, mit der Mobilitätsstrategie 2030 und den Handlungskonzepten, die sich daraus ableiten, haben wir eine sehr gute strategische Grundlage. Jetzt beginnt die Umsetzung. Die Verwirklichung der politischen Beschlüsse macht uns alle ehrlich, das heißt: Alle erleben jetzt, was ihre Beschlüsse in der Realität bedeuten. Das sorgt noch einmal für eine ausführliche Debatte, und das ist gut. Wenn wir dabei überzeugen wollen, müssen wir erfolgreich umgesetzte Beispiele zeigen und sie erlebbar machen.
Welche Leuchttürme sind das denn?
Ein Schlüsselprojekt ist die Lothringer Straße mit einer Radvorrangroute und einem Premium-Fußweg, der erste Bauabschnitt ist schon realisiert. Das Projekt kann jede*r anschauen und selbst ausprobieren, wie sich der innerstädtische Straßenraum der Zukunft anfühlt, den wir uns vorstellen. Das ist ein großartiges Projekt, bei dem der Radverkehr den Anlass zum Umbau gab, die Wirkung aber weit darüber hinaus geht. Wir bauen einen Stadtraum, der Menschen einlädt, sich dort aufzuhalten und Rad zu fahren, der aber auch die Möglichkeit bietet, ein Auto zu parken. Wir werden einen Stadtraum schaffen, zu dem Bäume gehören, der Sitzgelegenheiten bietet, Außengastronomie ermöglicht ̶ der vieles kann und wandlungsfähig ist. Dieses Können müssen wir zeigen.
Was unterscheidet einen Premium-Fußweg von einem Bürgersteig?
Es geht dabei nie um einen einzelnen Weg, sondern um ein Premium-Fußwegenetz. Aachen hat eine tolle Innenstadt mit traumhaften Weltkulturerbestätten. Außerdem ist Aachen insgesamt extrem von Grün durchzogen, auch das ist ein Alleinstellungsmerkmal. Die Idee ist, vom Startpunkt Markt aus bequem zu Fuß in die Aachener Grün-Trichter spazieren zu können. Also in ein bis eineinhalb Kilometern einen dieser Grünräume zu erreichen, die sich sternförmig vom Zentrum aus auffächern und die zahlreichen Bachtäler flankieren, dies natürlich auch mit Querverbindungen.
Diese Fußwege sind in der Regel zweieinhalb Meter breit und barrierefrei ausgebaut. Sie bieten in regelmäßigen Abständen Sitzgelegenheiten, sind gut beleuchtet und haben immer ein gewisses Extra. An historisch interessanten Strecken bringen wir etwa durch archäologische Fenster die Stadtgeschichte zutage, an anderen Stellen sorgt Lichtkunst für eine besondere Attraktion. Haltepunkte und Schilder weisen auf das Wegenetz hin. Das Premium-Fußwegenetz ist Teil des Innenstadtkonzepts 2022; einige Wege sind fast fertig. Überall dort, wo wir neue Oberflächen schaffen oder die Straße miteinbeziehen, müssen wir Kanäle und den Untergrund mitdenken. Das erfordert, unsere Arbeiten mit Partnern wie der Regionetz zu synchronisieren. Und umgekehrt.
Das erklärt zumindest zum Teil, wieso aktuell in Aachen Verkehrsteilnehmende von einer Baustelle in die nächste laufen oder fahren. Wieso weiß das niemand?
Wir müssen definitiv besser darin werden, die laufende Umgestaltung des Stadtraums im Zusammenhang zu erläutern. Und dass es politisch beschlossene Strategien und Konzepte gibt, nach denen wir vorgehen. Das gelingt uns noch nicht ausreichend gut. Die Perspektive ist nicht, eine Verkehrsart komplett durch eine andere zu ersetzen. Vielmehr wird die Mobilitätswende in Aachen von fünf Säulen getragen: Einladende Fußwege und Plätze, ein komfortables und sicheres Radnetz, einen attraktiven und stadtverträglichen ÖPNV, wenige saubere, klimaverträgliche und sichere Kfz – und ganz zentral: ein verändertes Mobilitätsverhalten. Ziel ist es, die Stadt so neuzugestalten, dass sie klimaresilient wird. Dazu müssen wir anders mobil unterwegs sein, und der Stadtraum soll uns hierfür passende Angebote machen. Um dies zu erreichen, verändern wir aktuell Vieles auf vielen Ebenen parallel.
Welche Beispiele zeigen, dass die Vision aufgeht?
Schauen wir uns die Bismarckstraße an: Da muss ich Gastronom*innen nicht mehr erklären, dass sie jetzt Tische und Stühle aufstellen können; sondern nur noch an den Antrag erinnern. Sobald es gute Gelegenheiten gibt, lassen sich Menschen dort nieder. Menschen nutzen den Raum, den sie erhalten, auch ohne, dass dort zwingend gebaut werden muss. Die große Baustelle für die umfassende Neugestaltung kommt erst noch. Und sie wird wieder staubig und laut werden, mit Umleitungsverkehr wird das ist ein Kraftakt für alle – aber wir wissen, dass es danach einfach gut wird für uns.
Oder nehmen wir die Lothringer Straße, hier sind wir mit dem ersten Bauabschnitt durch. Dort gibt es einen Gewerbetreibenden, der uns während der Bauarbeiten mit Beschwerden überschüttet hat. Er sah seine Existenz bedroht, weil die Parkplätze vor seinem Geschäft entfallen sind. Nach der Baumaßnahme hat er sich erneut bitter beklagt ̶ und plötzlich hing seine Existenz davon ab, dass Fahrradbügel direkt vor seinem Geschäft platziert werden, und nicht 20 Meter entfernt. Genau das ist der Paradigmenwechsel, den wir brauchen.
Das Gespräch führte Mirja Niewerth-Halis
Zur Person // Isabel Strehle leitet seit April 2020 den Fachbereich Stadtentwicklung, -planung und Mobilitätsinfrastruktur in Aachen. Die aus München stammende Architektin und Regierungsbaumeisterin, die zuletzt als Fachreferentin für Stadtentwicklung in Köln arbeitete, beschreibt sich selbst als „absoluten Stadtmenschen“ und lebt gern dort, wo sie Dichte spürt.